1 Ausgangslage: Studieren mit Beeinträchtigung
1.1 Generelles
Wie die bundesweite best3-Studie des Deutschen Studentenwerks (2023, Datenstand 2021) zeigt, geben 16 % der Studierenden an, eine studienerschwerende Beeinträchtigung erleben – im Vergleich zu 11 % im Jahr 2016, bzw. 8 % in 2011. Von diesen Betroffenen studieren 65 % mit psychischen Erkrankungen, 13 % mit chronischen Erkrankungen, und 31 % sind mehrfach beeinträchtigt. [1]
Laut best3, ist der größte Anstieg in der Gruppe der Studierenden mit einer psychischen Erkrankung ersichtlich: “Eine Zunahme um rund 20 Prozentpunkte von 45 % im Jahr 2011 auf 65 % im Jahr 2021. […] Bei knapp 17 % der Studierenden besteht die studienerschwerende Beeinträchtigung von Geburt an, bei etwa 63 % trat sie vor Studienbeginn auf.” [1] Demnach erhalten 37 % dieser Studierenden ihre Diagnose erst im Verlauf des Studiums, was den Zugang zu Unterstützung erschwert und sie strukturell benachteiligt.
Gleichzeitig nehmen nur 29 % der Betroffenen überhaupt einen Nachteilsausgleich in Anspruch, obwohl drei Viertel derjenigen, die ihn nutzen, ihn als hilfreich bewerten [1]. Das weist auf tiefgreifende strukturelle Hindernisse und auf eine verunsichernde Antragskultur hin.
1.2 Abbrüche
Die fehlende strukturelle Unterstützung für Studierende mit Beeinträchtigungen zeigt sich besonders deutlich in den erhöhten Abbruch- und Unterbrechungsquoten. Laut best3-Studie hat etwa jede*r fünfte Studierende mit studienerschwerender Beeinträchtigung das Studium mindestens einmal unterbrochen – im Vergleich zu nur 9 % unter den nicht beeinträchtigten Studierenden. Auch der Wechsel des Studienfachs (36,5 % vs. 23,6 %) und der Hochschule (27,3 % vs. 19,2 %) kommt unter beeinträchtigten Studierenden deutlich häufiger vor. Zudem beginnen sie seltener ein Masterstudium und sind – selbst bei vergleichbaren Studienleistungen – mehr als doppelt so häufig mit einem möglichen Studienabbruch konfrontiert (13,0 % vs. 4,7 %).
Diese Zahlen lassen sich nicht durch individuelle Leistungsfähigkeit oder mangelnde Motivation erklären, sondern sind Ausdruck systemischer Versäumnisse: mangelnde Inklusionsmittel, fehlende Unterstützung in Verwaltungsprozessen, unflexible Lehrformate und das weitgehende Fehlen diskriminierungssensibler Strukturen. Der Nachteilsausgleich, eigentlich als Unterstützungsmechanismus konzipiert, greift hier häufig zu spät, zu formalisiert oder gar nicht – insbesondere dann, wenn die Hürden zur Antragstellung zu hoch oder die Entscheidungsstrukturen nicht nachvollziehbar sind.
Eine studienerschwerende Beeinträchtigung sollte nicht der Grund für einen Studienabbruch sein. Der Verlust von Potenzialen, Perspektiven und Qualifikationen ist nicht nur individuell tragisch, sondern gesellschaftlich unverantwortlich – gerade im Kontext inklusiver Bildungsversprechen und des Fachkräftemangels. Ein wirksam implementierter Nachteilsausgleich ist dabei kein rein technisches Verfahren, sondern ein zentrales Instrument zur Vermeidung von Studienabbrüchen, zur Förderung von Studienverläufen und zur Wahrung des Rechts auf Bildung für alle.
Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, braucht es mehr als nur rechtliche Rahmenbedingungen: Es braucht verlässliche Unterstützungssysteme, niedrigschwellige Antragstellung, qualifizierte Beratung und verbindliche Sensibilisierung der entscheidenden Stellen. Nur so lässt sich sicherstellen, dass die Entscheidung für ein Studium nicht durch strukturelle Barrieren, sondern durch inhaltliche Interessen getragen wird – und dass niemand das Studium abbrechen muss, weil die Hochschule ihrer Fürsorge- und Schutzpflicht nicht gerecht wird.
1.3 Unterstützungsbedarf
Die Unterstützungsbedarfe von Studierenden mit studienerschwerender Beeinträchtigung sind vielfältig und immer individuell zu betrachten. Dennoch zeigt die best3-Studie, dass rund 27 % dieser Studierenden spezifische Anforderungen an die bauliche und technische Ausstattung ihrer Hochschule oder konkrete Unterstützungsleistungen formulieren. Besonders häufig genannt werden der Bedarf an Ruhe- und Rückzugsräumen(14 %) sowie Unterstützung bei E‑Learning-Angeboten (11 %). Darüber hinaus wünschen sich viele Studierende Hilfe im Studienalltag, etwa im Umgang mit Verwaltungsprozessen oder bei der Orientierung im Hochschulsystem.
Gerade im Kontext des Nachteilsausgleichs ist das Fehlen solcher Unterstützungsangebote gravierend. Ein erheblicher Anteil der Studierenden ohne gewährten Nachteilsausgleich gibt an, nicht gewusst zu haben, dass ein Antrag gestellt werden kann (40%). Etwa 33% der Studierenden, die eigentlich berechtigt wären einen Nachteilsausgleich zu beantragen, geben an, keinen Nachteilsausgleich beantragt zu haben, dass sie nicht wissen, an wen sie sich zur Unterstützung wenden können. 57% geben an, nicht sicher zu sein, ob sie anspruchsberechtigt sind oder ob der Antrag überhaupt Chancen hätte– ein strukturelles Problem, das mit Informationslücken, intransparenten Zuständigkeiten und fehlender Begleitung zusammenhängt. Der Nachteilsausgleich muss daher nicht nur rechtlich gewährt, sondern praktisch zugänglich gemacht werden – durch barrierefreie Informationen, niederschwellige Beratungsangebote und gezielte Unterstützungsmaßnahmen.
1.4 Diskriminierungserfahrungen
Studierende mit studienerschwerender Beeinträchtigung machen deutlich häufiger Diskriminierungserfahrungen im Hochschulkontext als Studierende ohne solche Beeinträchtigungen. Laut best3-Studie berichten 73 % der befragten Studierenden mit Beeinträchtigungen von mindestens einer Diskriminierungserfahrung – im Vergleich zu 58 % ihrer nicht beeinträchtigten Kommiliton*innen. Diese Differenz zieht sich auch durch spezifische Situationen: So geben 26 % der Studierenden mit Beeinträchtigungen an, dass ihnen Leistungen nicht zugetraut oder erbrachte Leistungen herabgewürdigt wurden. Bei Studierenden ohne Beeinträchtigungen liegt dieser Wert deutlich niedriger – bei nur 15–17 %.
Besonders betroffen sind dabei Studierende mit Mehrfachbeeinträchtigungen. Sie erleben nicht nur die stärksten Studienerschwernisse, sondern auch die höchsten Diskriminierungsraten: 27 % berichten von expliziten Benachteiligungen aufgrund ihrer physischen oder psychischen Erkrankung. Knapp 26 % geben an, ausgegrenzt oder übergangen worden zu sein, 28 % berichten von herabwürdigender oder stereotypisierender Behandlung, 22,5 % wurden im Hochschulkontext sogar ausgelacht.
Diese Zahlen belegen, dass studienerschwerende Beeinträchtigungen in vielen Fällen nicht nur funktionale Einschränkungen darstellen, sondern auch mit sozialen Ausschlüssen, entwürdigender Kommunikation und struktureller Abwertung einhergehen. Diskriminierung ist hier kein Nebeneffekt – sie ist integraler Bestandteil der Studienrealität vieler Betroffener.
Gerade im Verfahren des Nachteilsausgleichs gewinnt dieser Befund an Bedeutung: Wer über Nachteilsausgleiche entscheidet, beeinflusst maßgeblich die Teilhabechancen einzelner Studierender. Wenn jedoch – wie die Zahlen zeigen – ein relevanter Teil der Betroffenen strukturell benachteiligt und entmutigt wird, dann ist es nicht ausreichend, Nachteilsausgleiche formal korrekt zu verwalten. Vielmehr braucht es eine reflexive, diskriminierungssensible Haltung bei allen Entscheidungsträger*innen – insbesondere in Prüfungsämtern, Ausschüssen und Lehrstühlen. Die Angst vor Diskriminierungserfahrungen im Antragsverfahren darf kein Grund bleiben, dass Studierende nicht die Hilfe fordern, die ihnen rechtlich zusteht.
Sensibilisierung muss deshalb zu einem verbindlichen Bestandteil hochschulischer Praxis werden. Wer über Anträge auf Nachteilsausgleich urteilt, muss mit den Mechanismen von Stigmatisierung, ableistischer Normativität und nicht sichtbaren Beeinträchtigungen vertraut sein. Ohne dieses Bewusstsein besteht die Gefahr, dass auch gut gemeinte Entscheidungen paternalistisch, uninformiert oder – im schlimmsten Fall – reproduktiv diskriminierend getroffen werden.
Hinzu kommt: Die strukturelle Diskriminierung von Studierenden mit Beeinträchtigung ist auch intersektional verschränkt. So liegt der Anteil von Studentinnen mit studienerschwerenden Beeinträchtigungen mit 19 % deutlich über jenem von Studenten (12 %). Studentinnen geben zudem häufiger psychische Erkrankungen an (67 % vs. 62 %). Und besonders betroffen sind Studierende mit der Geschlechtsangabe divers oder andere, von denen mehr als die Hälfte (55 %) angibt, mit einer studienerschwerenden Beeinträchtigung zu studieren. Diese Zahlen machen deutlich, dass Nachteilsausgleich nicht losgelöst von Geschlecht, sozialer Positionierung oder psychischer Gesundheit gedacht werden kann. Besonders psychische Erkrankungen sind oft stigmatisiert, was oft zu einer negativen Entscheidung in Nachteilsausgleichen oder anderen Maßnahmen führen kann, welche eigentlich zur Unterstützung dienen soll.
Ein gerechtes, inklusives und diskriminierungssensibles Nachteilsausgleichsverfahren muss diesen Realitäten Rechnung tragen. Es darf nicht allein auf formale Gleichbehandlung setzen, sondern muss bestehende Ungleichheiten aktiv korrigieren – durch Schulung und strukturelle Verantwortungsübernahme.
1.5 Beratung und soziale Integration
Studierende mit studienerschwerender Beeinträchtigung haben nicht nur mit zusätzlichen Hürden im Studienalltag zu kämpfen, sondern benötigen auch signifikant mehr Unterstützung: fachlich, persönlich und strukturell. Laut der best3-Studie geben 96 % dieser Studierenden an, in mindestens einem Bereich – sei es Finanzierung, Studium oder Persönliches – einen konkreten Informations- oder Beratungsbedarf zu haben. Bemerkenswert ist dabei auch die deutlich höhere Nutzung entsprechender Angebote: 71,1 % der betroffenen Studierenden greifen auf Beratungsangebote zurück – gegenüber nur 42,6 % in der Vergleichsgruppe. Diese Zahlen belegen: Der Zugang zu Beratung ist für betroffene Studierende nicht nur hilfreich, sondern existenziell. Für den Nachteilsausgleich bedeutet das konkret, dass die Antragstellung nicht alleinige Eigenleistung der Betroffenen bleiben darf, sondern durch flächendeckende, qualifizierte und niedrigschwellige Beratungsstrukturen begleitet werden muss. Nur so kann gewährleistet werden, dass der rechtlich garantierte Nachteilsausgleich nicht an bürokratischen Hürden, fehlender Information oder individueller Überforderung scheitert.
Trotz des hohen Unterstützungsbedarfs zeigt sich, dass Studierende mit studienerschwerender Beeinträchtigung in ihrem Studienumfeld häufig nicht sozial integriert sind. Rund 59 % von ihnen haben keinen oder nur seltenen Kontakt zu ihren Mitstudierenden – ein deutlich höherer Wert als bei Studierenden ohne Beeinträchtigung (47 %). Auch der Kontakt zu Lehrenden außerhalb der Lehrveranstaltungen ist auffallend gering: 81 % der Betroffenen berichten, dass sie kaum oder nie ein persönliches Gespräch mit Lehrenden führen – ein Umstand, der direkte Auswirkungen auf die Möglichkeit hat, über individuelle Bedarfe, Schwierigkeiten oder Anpassungsbedarfe ins Gespräch zu kommen. Nur 27 % der Studierenden mit Beeinträchtigung geben an, mit ihren Mitstudierenden offen über ihre Schwierigkeiten sprechen zu können; 53 % erleben in ihrem Umfeld eher oder gar kein Verständnis. Auch gegenüber Lehrenden fühlen sich viele nicht gesehen: Nur 34 % der Befragten geben an, dort auf Verständnis für ihre studienbezogene Situation zu stoßen – zwei Drittel hingegen fühlen sich nicht wahr- oder ernstgenommen. Diese Ergebnisse zeigen eine strukturelle Vereinzelung und mangelnde Anerkennung beeinträchtigter Studierender im Hochschulalltag. Ein Nachteilsausgleich darf nicht allein formalrechtlich gedacht, sondern muss auch als Instrument gegen soziale Ausgrenzung und fehlende Anerkennung verstanden werden. Etwa 37% der berechtigten Studierenden geben an, keinen Nachteilsausgleich beantragt zu haben, da sie niemandem zur Last fallen wollen. 38% geben an, Hemmungen zu haben, sich an jemanden zu wenden. 19% haben Angst, weitere Nachteile im Studium zu erfahren. Wo kein Verständnis herrscht, braucht es Sensibilisierung, Weiterbildung und gemeinsame Vorgaben. Wo keine Offenheit möglich ist, muss systemisch geschützt werden. Nachteilsausgleich ersetzt nicht soziale Integration – aber er wird umso wichtiger, wo sie fehlt.
2 Nachteilsausgleiche
Der Nachteilsausgleich stellt ein rechtlich verankertes Instrument zur Sicherung chancengerechter Studienbedingungen dar. Er zielt darauf ab, Studierenden mit körperlichen, psychischen oder chronischen Beeinträchtigungen zu ermöglichen, ihre Prüfungsleistungen unter Bedingungen zu erbringen, in denen sie ihre Kompetenzen sichtbar machen – ohne durch äußere, nicht leistungsrelevante Faktoren benachteiligt zu werden. Als Maßnahme der sogenannten „angemessenen Vorkehrungen“ im Sinne von Artikel 5 Absatz 3 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ist der Nachteilsausgleich Ausdruck eines völker- und verfassungsrechtlich garantierten Gleichbehandlungsgebots. Auch die Hochschulrektorenkonferenz fordert in ihrer Empfehlung zum Studium mit Behinderung oder chronischer Krankheit (2009) die verbindliche Implementierung entsprechender Maßnahmen in allen Studienphasen.
Nachteilsausgleiche betreffen in der Praxis insbesondere Fristverlängerungen, Prüfungsformate, Anwesenheitspflichten oder das Setting von Prüfungen. Beantragt werden sie in der Regel bei Prüfungsämtern oder Prüfungsausschüssen. Davon zu unterscheiden sind individuelle Anpassungen, bei denen es sich meist um informelle Absprachen mit Lehrenden handelt, etwa zur Gestaltung von Lehrveranstaltungen, Gruppenarbeiten oder zur Bereitstellung barrierefreier Materialien. Beide Instrumente verfolgen jedoch dasselbe Ziel: die Sicherung gleichberechtigter Teilhabe im Studium.
Die Realität an den bayerischen Hochschulen weicht jedoch in alarmierender Weise von diesem Anspruch ab. Wie die bundesweite best3-Studie eindrücklich belegt, machen nur sehr wenige Studierende mit studienerschwerender Beeinträchtigung von ihrem Recht auf Nachteilsausgleich Gebrauch. Lediglich 21% der Betroffenen haben einen Antrag im Bereich Prüfungen gestellt, in der Studienorganisation liegt die Antragsquote bei nur 10%, im Bereich Lehre und Lernen sogar bei lediglich 8%– und das, obwohl über 92% der Betroffenen über Schwierigkeiten in mindestens einem dieser drei Bereiche berichten. Gleichzeitig geben knapp drei Viertel derjenigen, denen ein Nachteilsausgleich bewilligt wurde, an, dass sie diesen als (sehr) hilfreich empfinden. Es ist also nicht die Wirkungslosigkeit des Instruments, die zu seiner geringen Nutzung führt, sondern strukturelle Defizite im Zugang.
Die Gründe für die niedrige Antragsquote sind deutlich: Über die Hälfte der befragten Studierenden mit Beeinträchtigung verzichtet auf eine Antragstellung, weil sie sich selbst nicht „beeinträchtigt genug“ fühlt. Fast ebenso viele sind unsicher, ob sie überhaupt anspruchsberechtigt sind oder ob ein Antrag Aussicht auf Bewilligung hätte. Besonders betroffen sind Studierende mit psychischen Erkrankungen oder gleich schweren Mehrfachbeeinträchtigungen – also genau jene Gruppen, die in anderen Bereichen des Studiums bereits mit den größten Barrieren konfrontiert sind. Diese Daten belegen eindrücklich, dass die bestehenden Informationsangebote unzureichend sind. Studierende wissen häufig nicht, dass sie einen Anspruch auf Nachteilsausgleich haben, kennen die zuständigen Stellen nicht oder fürchten sich vor dem bürokratischen Aufwand. Zudem bekommen viele Studierenden ihre Diagnosen erst während des Studiums. Hierbei ist besonders zu beachten, dass Termine für behandelndes medizinisches Personal oft schwer zu bekommen sind und die Abklärungen von Diagnosen im Erwachsenenalter meist mit hohen Kosten begleitet werden.
Doch auch dort, wo ein Antrag gestellt wird, zeigt sich ein systematisches Versagen der Strukturen. Die Ablehnungsgründe, die in der best3-Studie erhoben wurden, werfen ein kritisches Licht auf die tatsächliche Praxis der Hochschulen. In fast 20% der Fälle wurde der Ablehnungsgrund nicht einmal mitgeteilt – ein höchst intransparentes und demotivierendes Vorgehen. Am häufigsten gaben Studierende als Grund für die Ablehnung an, dass Lehrende nicht bereit waren, ihre Lehrroutinen anzupassen. In weiteren Fällen wurden Anpassungswünsche mit dem Verweis auf die Prüfungsordnung abgelehnt oder die Beeinträchtigung nicht als ausreichender Grund anerkannt. Auch organisatorische oder technische Probleme auf Seiten der Hochschule führten regelmäßig dazu, dass Anträge scheiterten. Besonders gravierend ist, dass viele Studierende berichten, der gewünschte Ausgleich sei als „Bevorzugung“ gewertet worden – ein klar diskriminierendes Missverständnis der Rechtslage, das auf mangelnde Sensibilisierung und Qualifikation der Entscheidungstragenden verweist.
Diese Befunde machen deutlich, dass die bestehende Praxis des Nachteilsausgleichs in Bayern strukturelle Reformen dringend erforderlich macht. Entscheidungsbefugnisse liegen bislang oft bei einzelnen Prüfungsämtern oder Prüfungsausschüssen, deren Mitarbeitende in der Regel weder juristisch, medizinisch noch pädagogisch für die Bearbeitung solcher Anträge ausgebildet sind. In einigen Fällen sind die Dozierenden de Studierenden in diesen Entscheidungsgremien. Dies führt dazu, dass Studierende entweder den Antrag nicht stellen wollen da sie ihre Beeinträchtigung nicht an ihre Dozierenden preisgeben wollen, oder dass Dozierende diskriminierend mit diesem Wissen umgehen könnten. Es fehlt an einheitlichen Standards, an Transparenz, an Schutzvorkehrungen – und vor allem an einem inklusionssensiblen Verständnis der rechtlichen Verpflichtungen.
Aus diesem Grund fordern wir die Einrichtung einer hochschulübergreifenden, zentralen Handreichung und Handlungsempfehlung für Nachteilsausgleiche. Zudem bedarf es klarer Verfahrensstandards, transparenter Begründungspflichten bei Ablehnungen sowie regelmäßig verpflichtender Fortbildungen für alle beteiligten Entscheidungsträger*innen. Der Nachteilsausgleich darf nicht länger ein bürokratisches Hindernis sein, sondern muss als das verstanden werden, was er ist: ein rechtlich garantiertes Mittel zur Herstellung von Gerechtigkeit im Hochschulraum.
3 Strukturelle Probleme: Fehlentscheidungen, Unsicherheit, Barrieren
Die aktuelle Praxis des Nachteilsausgleichs an bayerischen Hochschulen weist gravierende strukturelle, rechtliche und prozedurale Defizite auf. Diese erschweren nicht nur die chancengerechte Teilhabe von Studierenden mit Beeinträchtigungen, sondern konterkarieren die Idee des Nachteilsausgleichs als rechtlich garantierter Schutzmechanismus gegen Diskriminierung. Die Ergebnisse der best3-Studie und die Einschätzungen von Expert*innen decken sich in zentralen Problemanzeigen und werden durch das Rechtsgutachten von Prof. Dr. Jörg Ennuschat (2019) rechtsdogmatisch untermauert.
3.1 Rechtsdogmatische Missverständnisse
Ein zentrales Problem besteht in der Missdeutung des Nachteilsausgleichs als „Kann-Leistung“ oder Kulanzmaßnahme. Tatsächlich handelt es sich hierbei um einen Rechtsanspruch, der sich aus dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes (Art. 3 GG), dem prüfungsrechtlichen Gebot der Chancengleichheit sowie der UN-Behindertenrechtskonvention (Art. 24 UN-BRK) ableitet (Ennuschat 6–10). Die häufige Verwendung des Begriffs „Dauerleiden“, der in vielen Hochschulordnungen und Formularen nach wie vor verwendet wird, steht im klaren Widerspruch zu diesem Rechtsverständnis. Er pathologisiert Studierende, entindividualisiert ihre Bedarfe und verengt den Blick auf Prüfungs(un)fähigkeit, anstatt die tatsächliche Darstellungsfähigkeit unter bestimmten Bedingungen zu betrachten. Insbesondere Studierende mit psychischen und neurodivergenten Beeinträchtigungen sind hiervon betroffen und werden faktisch schlechter gestellt als Studierende mit sichtbaren körperlichen Einschränkungen – ein Befund, den Ennuschat (2019) ausdrücklich kritisiert.
3.2 Fehlendes Fachwissen bei Entscheidungsträger*innen
Ein weiteres zentrales Problem liegt in der fehlenden Qualifikation derjenigen Personen, die über Anträge auf Nachteilsausgleich entscheiden. In Bayern erfolgt dies häufig durch einzelne Sachbearbeiter*innen in Prüfungsämtern – ohne juristische, psychologische oder diskriminierungskritische Ausbildung oder durch Prüfungsausschüsse – teils bestehend aus den Dozierenden der Studierenden. Die Bewertung medizinischer und psychischer Diagnosen sowie die Einschätzung geeigneter Maßnahmen erfolgt damit vielfach auf unsicherer, teils voreingenommener Grundlage. Die Entscheidung über einen Nachteilsausgleich hängt somit oft vom individuellen Vorverständnis oder Vorurteil der zuständigen Person ab – eine Situation, die für den Landesstudierendenrat Bayern inakzeptabel ist.
3.3 Uneinheitliche Verfahren und unklare Zuständigkeiten
Die Verfahren zur Beantragung von Nachteilsausgleichen sind hochschulübergreifend und teilweise auch innerhalb einzelner Hochschulen nicht standardisiert. Unterschiede in Prüfungs- und Inklusionskulturen führen dazu, dass die Erfolgschancen eines Antrags maßgeblich vom Standort und von der zuständigen Person abhängen. Dies widerspricht dem Gleichbehandlungsgrundsatz und verstärkt strukturelle Ungleichheit. Hinzu kommt die mangelnde Transparenz: Viele Studierende wissen nicht, welche Unterlagen erforderlich sind, an wen sie sich wenden können oder welche Fristen zu beachten sind. Auch sind Einzelheiten der Anträge oft unterschiedlich. So beispielsweise, ob Schreiben von approbierten Therapeut*innen auseichend sind für die Antragsstellung oder nicht.
3.4 Mangelnde Unterstützung und Barrieren im Zugang
Die Antragstellung erfolgt häufig ohne begleitende Beratung. Vielen Studierenden ist das Angebot nicht bekannt, oder es ist personell und institutionell nicht ausreichend vorhanden. Digitale Antragssysteme fehlen entweder ganz oder sind nicht barrierefrei. Studierende sehen sich mit einem hochformalistischen Verfahren konfrontiert, das sie in der Regel alleine bewältigen müssen – obwohl die Antragstellung insbesondere bei psychischer Belastung eine erhebliche Herausforderung darstellt.
Wie die best3-Studie zeigt, ist die Konsequenz daraus gravierend: Nur rund 21 % der Studierenden mit studienerschwerender Beeinträchtigung stellen überhaupt einen Antrag. Besonders häufig verzichten gerade jene Gruppen, die besonders belastet sind – Studierende mit psychischen Erkrankungen oder mit Mehrfachbeeinträchtigungen. Es mangelt an niedrigschwelliger Information, an transparenter Kommunikation und an vertrauenswürdigen Beratungsstrukturen.
3.5 Problematische Ablehnungsgründe
Auch die Gründe, aus denen Nachteilsausgleiche abgelehnt werden, sind in vielen Fällen bedenklich – sowohl rechtlich als auch institutionell. Fast 20 % der betroffenen Studierenden erhalten keine Begründung für die Ablehnung ihres Antrags – ein intransparentes Vorgehen. 39 % berichten, dass Lehrende nicht bereit waren, ihre Lehrformate anzupassen. In 35 % der Fälle wurde der Antrag mit Verweis auf die Studienordnung abgelehnt, in 34 % wurde die Beeinträchtigung nicht als ausreichender Grund anerkannt. Auch werden einige Anträge abgelehnt, da die geforderten Ausgleiche im Wiederspruch mit den abgefagten Prüfungsleistungen stehen – so etwa Zeitmanagement oder Konzentrationsfähigkeit. Hierbei wäre es wichtig zu evaluieren, ob Prüfungsformate diese Themen abfragen sollten, besonders in Zeiten der Digitalisierung. All dies verweist auf eine strukturelle Unkenntnis der Rechtslage sowie auf eine verbreitete Entsolidarisierung innerhalb der Hochschulen – insbesondere gegenüber nicht-sichtbaren Beeinträchtigungen.
3.6 Fehlende Digitalisierung und unklare medizinische Standards
Die fehlende Digitalisierung von Antragsprozessen erschwert nicht nur die Zugänglichkeit, sondern auch die Nachvollziehbarkeit und Archivierung von Entscheidungen. Zudem bestehen Unsicherheiten hinsichtlich der Akzeptanz medizinischer Nachweise: Viele Studierende haben Schwierigkeiten, kurzfristig Termine bei Fachärzt*innen zu bekommen. Die Frage, ob auch approbierte Psychotherapeutinnen Nachweise ausstellen dürfen, ist oft nicht geklärt oder wird uneinheitlich gehandhabt. Solche Unklarheiten müssen dringend rechtlich und verwaltungstechnisch aufgelöst werden – etwa durch eine aktualisierte, öffentlich zugängliche Liste akzeptierter Fachpersonen und Nachweisformen, sowie eine klare Kommunikation seitens Entscheidungsträger*innen.
4 Forderungen
Der Bayerische Landesstudierendenrat fordert eine tiefgreifende strukturelle Neuausrichtung der Verfahren zum Nachteilsausgleich an bayerischen Hochschulen mit folgenden Schwerpunkten:
- Qualifizierung aller prüfungsrelevanten Entscheidungsträger*innen
An beinahe sämtlichen Hochschulen und den Studierendenwerken gibt es Berater:innen und Mitarbeitende, die Studierende mit Behinderungen sowie chronischen Erkrankungen unterstützen. Nicht nur die Beratungsstellen von Hochschulen und Studierendenwerken kommen dabei mit dem Thema Nachteilausgleiche in Berührung, sondern auch Mitarbeitende von Prüfungsämtern und ‑ausschüssen sowie Lehrende. Damit es hier eine adäquate Beratung und Hilfe geleistet werden kann, fordert der Bayerische Landesstudierendenrat regelmäßige Schulungen und Weiterbildungen anhand der aktuellen Rechtslage, dem Prüfungsrecht und der UN-Behindertenrechtskonvention. Darüber hinaus fordert der Bayerische Landesstudierendenrat die Qualifizierungen des Personals für eine diskriminierungsfreie Kommunikation, ebenso wie die Sensibilisierung gegenüber neurodivergenten und psychischen Beeinträchtigungen.
- Bessere Infrastruktur und barrierearme Antragstellung
Damit Studierenden mit Beeinträchtigungen bei der Antragsstellung zu Nachteilsausgleichen keine zusätzlichen bürokratischen Hürden entgegenstehen, fordert der Bayerische Landesstudierendenrat digitale, barrierefreie und einheitliche Antragssysteme, die für Ärzt:innen und andere externe Anlaufstellen eindeutig und zweifelsfrei bearbeitet werden können. Außerdem sollen automatisierte Verbindungen zwischen Antragsstellung und BAföG-Fristenregelungen geschaffen werden. Zur Unterstützung dieses Prozesses sollen zusätzliche unabhängige, qualifizierte Beratungsstellen ausgebaut werden. Der Bayerische Landesstudierendenrat fordert darüber hinaus die Zurverfügungstellung von angemessener Technikausstattung zur Unterstützung sensorischer und kognitiver Bedarfe.
- Nutzung und Verstetigung von Inklusionsmitteln
In Anlehnung an andere Bundesländer sollen auch in Bayern Inklusionsmittel bereitgestellt werden, die etwa für technische Hilfsmittel, eine persönliche Unterstützung in Prüfungssituationen oder administrative Entlastung eingesetzt werden können. Die IBS verweist bereits auf funktionierende Modelle andernorts – Bayern hinkt hier hinterher.
- Nachteilsausgleich darf nicht zu BAföG-Nachteilen führen
Die Höchststudiendauer im BAföG ist für viele Betroffene realitätsfern. Ein Nachteilsausgleich, z. B. in Form von verlängerten Bearbeitungszeiten oder Prüfungsfristen, muss automatisch auch im Rahmen des BAföG berücksichtigt werden.
- Teilzeitstudiengänge
Unter Studierenden mit studienerschwerenden Beeinträchtigungen liegt der Anteil an Vollzeitstudierenden bei etwa 77 % und damit niedriger als bei Studierenden ohne Beeinträchtigungen (mit etwa 82 %). Allerdings sind beeinträchtigte Studierende nicht häufiger in offiziellen Teilzeitstudiengängen eingeschrieben, sondern überwiegend in Vollzeitstudiengängen, die sie faktisch in Teilzeit absolvieren – entweder auf Grundlage individueller Vereinbarungen (11,5 %) oder ohne eine solche Regelung (5,6 %). Dagegen ist in offiziellen Teilzeitstudiengängen der Anteil der Studierenden ohne studienerschwerende Beeinträchtigungen etwas höher (8,6 % gegenüber 7 % mit studienerschwerenden Beeinträchtigungen) [4]. Deshalb fordert der Bayerische Landesstudierendenrat eine Einführung von Teilzeitstudiengängen für alle Studiengänge an allen bayerischen Hochschulen und Universitäten.
- Bessere Aufklärung — auch von Falschinformationen
Der Bayerische Landesstudierendenrat fordert eine umfassende, verständliche und barrierefreie Aufklärung über Nachteilsausgleiche. Hierbei sollen nicht nur bestehende Informationslücken geschlossen, sondern auch aktiv Falschinformationen verhindert und korrigiert werden, um Studierende zuverlässig über ihre Rechte zu informieren. Die Informationen müssen den Studierenden vollständig, verständlich und barrierefrei zugänglich und auf die Angebote niederschwellige aufmerksam gemacht werden.
- Transparentere Vorgänge — auch bei Ablehnungen
Die Verfahren rund um Nachteilsausgleiche müssen nicht nur transparent gestaltet werden, sondern insbesondere bei Ablehnungen oder Fehlern nachvollziehbar, klar und mit rechtlich überprüfbaren Begründungen erläutert werden, um Studierenden mit Beeinträchtigungen Orientierung und Rechtssicherheit sowie die Möglichkeit zur Ausbesserung von fehlerhaften Anträgen zu geben.
- Nachteilausgleiche auch innerhalb der Lehre und Lehrveranstaltungen
Der Bayerische Landesstudierendenrat fordert, dass Nachteilsausgleiche nicht ausschließlich für Prüfungen gelten, sondern auch für die Teilnahme an Lehrveranstaltungen. Nur so kann gewährleistet werden, dass Studierende mit studienerschwerenden Beeinträchtigungen gleichberechtigt am Studium teilnehmen können.
- Unabhängigkeit von Entscheidungsträger:innen
Über Nachteilsausgleiche dürfen Lehrende oder Prüfer:innen in keinem Fall entscheiden, die in direktem Kontakt zu den betroffenen Studierenden stehen. Um Befangenheit und Abhängigkeiten zu vermeiden und betroffene Studierende zu schützen, müssen Entscheidungen durch neutrale Ansprechpersonen getroffen werden.
- Abbau von Hürden bei der Beantragung
Viele Studierende mit Beeinträchtigungen verzichten auf die Beantragung von Nachteilsausgleichen aus Sorge vor Vorurteilen und negativen Konsequenzen. Der Bayerische Landesstudierendenrat fordert daher niederschwellige, sichere und vertrauensvolle Verfahren, die nicht nur den Zugang zu Nachteilsausgleichen erleichtern und Ängste von Betroffenen abbauen, sondern die sowohl Lehrende, Mitarbeitende und Ansprechpersonen sensibilisiert.
5 Schlussbemerkung
Ein Nachteilsausgleich darf keine „Gnade“ sein, sondern muss auf einem transparenten, einheitlichen und diskriminierungsfreien Verfahren beruhen. Die Hochschulen sind dem inklusiven Bildungsauftrag verpflichtet – dies schließt eine strukturelle Zuständigkeit und Verantwortung für die Chancengleichheit aller Studierenden zwingend ein.
Der Nachteilsausgleich ist kein Gnadenakt, sondern ein Rechtsanspruch auf Gleichbehandlung. Eine inklusive Hochschullandschaft misst sich daran, ob sie die strukturellen Barrieren für alle abbaut – nicht nur für die, die laut, gesund und rechtzeitig sind.
Bayern hat die Chance, aus einem zufälligen Flickenteppich ein professionelles, transparentes und gerechtigkeitsbasiertes System zu machen. Die best3-Studie zeigt: Die Zeit ist reif. Die Verhältnisse sind es nicht.
6 Quellen
[1] Best 3, S. 5.
[2] Ennuschat, Jörg. Rechtsgutachten zur rechtlichen Zulässigkeit und Ausgestaltung von Nachteilsausgleichen für Studierende mit Behinderungen. Beauftragt durch das Deutsche Studentenwerk, 2019.
[3] Muthorst, Olaf. Präsentation „Nachteilsausgleich und Prüfungsrecht – Strukturelle Hürden und diskriminierungsfreie Verfahren“, 2025.
[4] Best 3, S. 6